Helmut Schmale

*1934 in Emden, lebt in Frechen-Königsdorf

Pfarrer i.R., Mitglied im Autorenkreis Rhein-Erft, in der Europäischen Autorenvereinigung "Die Kogge" und in der Literarischen Gesellschaft Köln

Gedichte in Einzelveröffentlichungen:

und kein lachen (1984)
alles hat seine zeit (1984)
unterwegs (1990, mit Originalgrafiken der Landhausgruppe)
kopfsteinpflaster (Landpresse 1993)
Regen und Schweigen (Landpresse 1993)
überschreibungen (edition fundamental 1994)
IM TAL DER ZEICHEN (CALATRA PRESS 2001)
à portée de main à portée de voix (d/frz., Übersetzung M. Ziegler, éditions L. Mauguin, Paris 2005)



Gedichte und Prosa in Anthologien und Zeitschriften (Auswahl):

Anthologien der Landpresse bzw. Autoreninitiative Köln, Hrsg. Axel Kutsch:
Lyrik 87; Ortsangaben 1987, Wortnetze I-III 1988/90/91; Zehn 1993; Zacken im Gemüt 1994; Der Mond ist aufgegangen 1995; JAHRHUNDERTWENDE 1996; Orte.Ansichten 1997; Das große Buch der kleinen Gedichte 1998; Blitzlicht 2001; Städte.Verse 2002; Zeit.Wort 2003; Spurensicherung 2005;Versnetze 2008

Anthologien hrsg. von Jochen Arlt, Pulheim:
Kölner Weihnachtsbuch 1989; Stadt im Bauch 198; Knollen, Kohle und Milljöh 1990; Leben alle Tage 1994; Junger Westen 11. Lesebuch 1996

andere Anthologien:
Rufe, religiöse Lyrik der Gegenwart, Gütersloh 1981
Radius-Almanach 87/88
NordWestSüdOst hrsg. von Theo Breuer 2003
Gegen die Schwerkraft der Sinne, handgeschriebene Gedichte mit Originalgrafiken, edition bauwagen, Hrsg.Theo Breuer 2004
Haiku (Neue Cranach Presse Kronach 2003)
Morgen wird keiner von uns leben bleiben - 10. Literaturwettbewerb der GEDOK 1998

Veröffentlichungen des Autorenkreises Rhein-Erft:
Zeitschrift "Kohlepapier"; Wortrevier 1988; Autoren im Erftkreis 1990; Wortfelder 1994; Übergänge (o.J.); Zeitbanditen 2007

Zeitschriften:
neues rheinland (1983, 84,87,89); jederart (Hrsg. Eka Kempkes,1993,94,95,97); Reibeisen - Kulturmagazin A-Kapfenberg; pasII/pasIII édition L. Maugin; Faltblatt Nr.9 (Hrsg. Theo Breuer, 2004); Muschelhaufen (Hrsg. Erik Martin, 2001, 2002)

Textproben
mein gedicht
ist mein gedächtnis
litanei der verschwiegenen
insistierenden Gedanken
spinnengewebe
silbriger silben
versprechen und
wortbruch manchmal
morgens
und abends
(aus: Im Tal der Zeichen, Calatra press 2001)

inspiration
ich denke
ein mensch ist schöner
als ein lied in seinen augen
das blau des himmels
die schwärze der nacht
das blitzen der überraschung
in seinem gesicht
die trauer geschrieben
die mühe um seligkeit
das aufmerken
wenn ein gras sich bewegt
noch schöner ist
ein mensch
wenn er ein lied singt

inspiration
J'estime qu'un homme
est plus beau
qu'un chant dans ses yeux
l'azur du ciel
les ténèbres de la nuit
l'éclair de la surprise
écrits sur son visage
le chagrin
l'aspiration au bonheur
le regard attentif
au mouvement d'un brin d'herbe
mais plus beau encore
est un homme
quand il chante son propre chant
(Übers. Jan Lerner)

inspiration
i think
a human is more beautiful
than a song in his eyes
the azure of sky
the ebony of night
the flashing of surprise
in his face
sadness inscripted
the effort for beatitude
the attention
as a grassblade is moving
even more beautiful
a human is
singing a song
(Übers. Rena Meyer Wiel)
(aus: "Reibeisen", Kulturmagazin Kapfenberg; auch in weitere Sprachen übersetzt)

Trost bei Goethe oder Steine statt Brot - Poesie des Zweifels
Poesie des Zweifels, das heißt zunächst: der Zweifel hat seine eigene Poesie, ist poetisch an und für sich, weil nicht einfach sondern zwiefach, nicht einfältig sondern zwiefältig, vielfältig, nicht eindeutig sondern zweideutig, zwiespältig, vielsagend jedenfalls, läßt in der Schwebe eines unbestimmten und daher mehrfachen Sinns, das heißt, er stellt seine dualen pluralen Sicht- und Ausdrucksweisen wiederum infrage. Gemeint ist also mehr als eine Genitiv-Poesie, auch der Zweifel bekommt sein Attribut: Der Zweifel ist poetisch, selbstredend, selbst-verständlich.
Meine skeptische Poetik erhebt keinen dogmatischen, systematischen, gar normierenden Anspruch, sondern bezeichnet eine Poesie, die nicht nur sich in Gehalt und Gestalt, Norm und Form in Frage stellt, an sich selbst zweifelt (das ist immerhin ihr begründender Ansatz), sondern auch Zweifel evoziert und in Zweifel beläßt. Zeugen einer "zweifelhaften Poesie" wären zu zitieren, Brechts Gedicht DER ZWEIFLER noch einmal nachzulesen oder seine poetologischen Merksätze: "Flach, leer, platt werden Gedichte, wenn sie ihrem Stoff seine Widersprüche nehmen, wenn Dinge, von denen sie handeln, nicht in ihrer lebendigen, d.h. allseitigen, nicht zuendekommenden Form auftreten. Geht es um Politik, so entsteht dann die schlechte Tendenzdichtung. Man bekommt tendenziöse Darstellungen, welche allerhand auslassen, die Realität vergewaltigen, Illusionen erzeugen sollen. Man bekommt... Phrasen, unpraktikable Anweisungen." Klaus Wagenbach sagte in seinem Referat DAS ENDE DER ENGAGIERTEN LITERATUR? (Leipziger Messe 1998), was Literatur kann:
"Sie kann uns das Andere vor Augen halten, nicht das Bekannte. Oder das Bekannte als das Andere. Sie muß informiert sein über die Angelegenheiten der Welt und darf sich nicht dumm stellen. Sie muß polyvalent sein, verwirrend, Mißverständnissen ausgesetzt und sie hervorrufend." Rühmkorf gab eine einfache Faustregel: "... daß das Gedicht am ehesten zugrunde geht an Fraglosigkeit und daß es zur Formalität erstarrt, wo es mit vorgefundenen Antworten sich begnügt." Ich denke, man kann sich einen Reim drauf machen wie Bernhard Nellessen in seinem Gedicht.

Klappentext
dieser dichter
beherrsche seine sprache
mit leichter feder jederzeit
nimm ein anderes Buch
wer hätte gewinn
von gehorsamen wörtern

Oder extrem - "Man denke an Becketts Technik, alles Gesagte sogleich rückgängig zu machen" (E. Hesse) - die Dichtungen Becketts, "in denen ein fundamentaler Zweifel die Realität der erzählten Geschichte , der Personen, der Ereignisse, des Erzählers, ja des Wortes selbst in Frage stellt (...), die einander in betonter Weise aufheben: dadurch, daß der Bejahung unmittelbar die entsprechende Verneinung folgt, durch die Aporie, die ohne Antwort gelassene Frage, durch 'vielleicht' und 'ohne Zweifel' oder 'warum nicht?'" (Nadeau: S. Beckett oder das Recht auf Schweigen). Schließlich Marie Luise Kaschnitz: "Der Dichter ist das Sprachrohr der Ratlosigkeit seiner Zeit." Ich spreche von der Poesie des Zweifels, um sie, die Poesie, wie auch den Zweifel, aus dem dogmatischen Kontext zu lösen. Ich nehme in Kauf, wenn man feststellen will, ich ginge leichtsinnig und leichtfertig damit um, einfach spielerisch, kreativ. Ich möchte von der Anmut des Zweifels reden, das mag etwas Luftiges, Lustvolles, Sinnvolles, Mutiges bedeuten, ich meine damit, daß der Zweifel den Charme der Poesie zu entfalten vermag, er muß nicht die grimmige Mimik des Grüblerischen (das sich in Falten zusammenziehende Bedenken) beweisen, er bewegt sich im Spielraum des Möglichen, im ungesicherten Sprach- und Ausdrucksraum. Meine Verse kommen in kleingeschriebenen Wörtern daher und kommen ohne Satzzeichen aus: kein Ausrufezeichen, nicht einmal Fragezeichen (in der Regel), weder Punkt noch Komma, höchstens ein Doppelpunkt oder Gedankenstrich - dies ist das Geringste: daß Sätze in der Schwebe bleiben. Daß Wörter buchstäblich verantwortet werden: "die verlorene ehre der wörter wiederzufinden". Daß Gedichte mißtrauen. So ist Skepsis und Zweifel manchmal eher Empörung, Widerstand oder auch Ratlosigkeit, jedenfalls Unruhe, denn ein unruhiger Geist ist besser als ein hoher Prediger (PREDIGER 7,8 - alles gilt ja auch für die Sprache der Theologie): Mißtrauen, also gegen schöne Wörter, schöne Sätze, klingende Münze, tönend Erz, Hymnen; Mißtrauen gegen Behauptungen, Ansprüche, Antworten, Trost (Ent-täuschen ist eine Variante des Zweifels). "Poesie rettet nicht, tröstet nicht" (A. Kamienska), "hier ist die Rede vom Salz, das brennt in den Wunden" (Chr. Meckel). Ich schreibe Gedichte, also zweifle ich, ich zweifle, also schreib ich Gedichte. Poesie ist Werkstatt des Zweifels, Zweifel ist Werkbank der Poesie. Und was ist mit der "Ästhetik des Schmutzes" (Härtling), des Müllplatzes (Grass)?

Gedichte sind empfänger antennen seismografen
echolote suchmeldungen versuche:
gott dieses geköhlerte wort noch einmal zur glut
zu bringen zur weißglut/ manchmal auch wut-ausbrüche
gegen zahnlose engel mit ihrem kyrieleison - aber gedichte
sind keine erfolgsmeldungen

Zweifel wird häufig negativ gewertet als letztlich destruktiv, defätistisch. Man mag sich wundern, daß Zweifel letztlich auch Hoffnung sein kann, weil er, wie gesagt, Möglichkeiten offenhält, weil er nicht unbedingt rechtbehalten will (was hier und da zu befürchten und schrecklich wäre). Auch sucht er Klarheit und Klärung, wo wir im trüben fischen und schreit nach frischem Wasser, will Licht ins Dunkel bringen und die finsteren Machenschaften und Verhältnisse aus dem Schatten des Übersehens und Vergessens ziehen, wirkt kritisch, aufklärerisch gegenüber sowohl rationalen wie irrationalen Postulaten, ob mythisch oder mystisch oder einfach nur ungeklärt, verschleiert, umnebelt, undurchschaubar, verlogen. Wer Poesie sucht, ist der Wahrheit auf der Spur. Wer dem Zweifel nicht folgt, wird die Wahrheit nicht finden.
(Aufsatz in: Faltblatt Nr. 9, hrsg.von Theo Breuer, 2004)